Was ist handlungsorientierter Unterricht

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İndir/Yükle

Was ist handlungsorientierter Unterricht?
Katrin Müller, Gerd Gidion

  1. Ein kurzer theoretischer Abriss
    Würde man eine Rangliste aufstellen mit Begriffen, die in den letzten zehn Jahren innerhalb der
    Didaktik am intensivsten diskutiert wurden, würde „handlungsorientiertes Lernen“ bzw.
    „handlungsorientiertes Unterrichten“ einen der obersten Plätze belegen. Was jedoch genau darunter
    zu verstehen ist, wird in der Literatur oft uneinheitlich dargestellt. Im Folgenden soll ein Überblick über
    die Gemeinsamkeiten der Ansätze gegeben werden.
    Sich im Meisterlehrgang an Handlungen zu orientieren ist gefragt. Eine Handlung kann definiert
    werden als bewusstes, zielgeleitetes Tun, d.h. Arbeits- oder Lernziele bestimmen ein Vorgehen, das
    absichtsvoll ausgeübt wird. Die Komponenten einer Handlung sind in Abbildung 1 dargestellt. Wenn
    alle aufgeführten Komponenten in einer Handlung vorkommen, wie das bei vielen Aufgaben, die
    Meister in ihrem betrieblichen Arbeitsalltag bewältigen, der Fall ist, spricht man von einer
    vollständigen Handlung.

Abbildung 1: Komponenten einer Handlung

Aufgabenstellung verstehen / Ziele setzen

Vollständige
Handlung

Ausgangssituation analysieren

Handlungen planen

Handlungsplan ausführen Pläne bewerten / Entscheidungen treffen
Ergebnisse kontrollieren
Handlung bewerten

Mit dem Einsatz situationsbezogener Lernaufgaben im Lehrgang sollen vollständige „meisterliche“
Handlungen nachvollzogen werden. Teilnehmer sollen auf der Basis der Situationsbeschreibungen
Probleme erkennen bzw. die Aufgabenstellungen verstehen. Im zweiten Schritt durchlaufen sie die
Analyse der Ausgangssituation durch das Beschaffen von Informationen und das Sichten der
Arbeitsunterlagen, z.B. der Anhänge der Aufgaben. In der Handlungsplanung stellen sie
Arbeitsschritte auf, die es zu koordinieren gilt. Auf der Grundlage unterschiedlicher Kriterien einigen
die Teilnehmer sich auf ein bestimmtes Vorgehen und führen den Handlungsplan aus. Danach wird
durch die Gruppe selbst, den Kurs und Sie als Dozent das Ergebnis bewertet und auf einer Metaebene
das gemeinsame Vorgehen reflektiert.
„Das ist doch alles theoretisch gut, praktisch kommt es jedoch in dieser Form so gut wie nie vor“
werden Sie sich nun vielleicht denken. Und damit auch recht haben. Es ist tatsächlich eher die
Ausnahme als die Regel, dass im Lehrgang für Industriemeister vollständige Handlungen in derart
systematischer Weise von Teilnehmenden durchgeführt oder nachvollzogen werden. Insbesondere das
bewusste Entscheiden für ein gemeinsames Vorgehen in Gruppenarbeiten oder das nachträgliche
Reflektieren des Lernprozesses sind eher selten anzutreffen. Leider. Denn somit bleibt den Lernenden
auf der methodischen und der persönlichen bzw. sozialen Ebene wichtiges Feedback verschlossen, das
sie in der Regel in ihrem betrieblichen Alltag auch nur indirekt bekommen.
Ziel des handlungsorientierten Unterrichts ist es, die Lernenden aktiv in die Bewältigung
vollständiger Handlungen einzubinden und sie somit zu einer mündigen Handlungsfähigkeit

heranzuführen. Diese Handlungskompetenz zeichnet sich aus durch die Fähigkeit zu kritischem,
reflektiertem, verantwortungsbewusstem und selbständigem Denken und Handeln, zu Teamfähigkeit,
Kommunikation, Mobilität und Flexibilität sowie zu selbstorganisiertem Lernen. Der
Lehrgangsteilnehmer erwirbt somit das nötige Know-how, also das “Wissen, wie” man selbständig
unterschiedliche Probleme und Aufgabenstellungen angehen und bewältigen kann.
Handlungsorientierter Unterricht regt den Lernenden zu aktiver, konstruktiver und zielorientierter
Bearbeitung der Lerninhalte an. Dies bedeutet, dass der Lernende keine passive “Konsumhaltung”
einnimmt, sondern selbst aktiv den Stoff bearbeitet. Er verknüpft die neuen Lerninhalte konstruktiv mit
bereits erworbenem Wissen und hat das Ziel des Lernprozesses stets vor Augen.
Sie als Dozent beeinflussen durch die Gestaltung der Lernumgebung, ob und inwieweit die
Lehrgangsteilnehmer Handlungskompetenz erwerben können. Wie hoch der Grad der erreichbaren
Handlungsorientierung im Lehrgang ist, wird u.a. bestimmt durch:

  • das Ausmaß des aktuellen Bezugs zur Praxis,
  • die Komplexität der Aufgabenstellungen,
  • die Möglichkeit, Probleme aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten,
  • die Auswahl der Methoden (z.B. Zusammenarbeit in Kleingruppen),
  • die anwendungsorientierte Prüfung des Gelernten (keine reine Wissensabfrage,
    sondern Verständnisfragen)
  • und ob es Ihnen gelingt, das Interesse der Teilnehmer für den Lernstoff zu
    wecken und auf der Metaebene Reflektionen anzustoßen!
  1. Merkmale handlungsorientierten Unterrichts
    Tabelle 1: Merkmale handlungsorientierten Unterrichts auf übergeordneter Ebene
    Merkmal Erläuterung
    Ganzheitlichkeit • vollständige Handlungen
    • enger Praxisbezug
    • fächerübergreifend
    Aktivität der Lernenden • Selbständiges Lernen
    • Problemlösung
    • interaktionsbetonte Methoden

Zielgruppenorientierung Berücksichtigung von
• vorhandenen Erfahrungen
• Interessen, Kenntnissen etc.

Reflexion Rückschau auf

• Bewältigung der Aufgabe
• Lernprozeß

Konkret für die Lehrgangsgestaltung bedeutet dies, auf die Einhaltung folgender Grundsätze zu
achten:

  • Der Einsatz praxisnaher, komplexer Aufgabenstellungen steht als „Vehikel für die Lerninhalte“ im
    Vordergrund und ermöglicht das Aneignen von Wissen und das Erwerben von Handlungskompetenz in
    unterschiedlichen Fachgebieten. Abstrakt vermittelte Lerninhalte sind zu vermeiden.
  • Die Lehrgangsteilnehmer erkennen die Relevanz und Nützlichkeit des Gelernten für ihre betriebliche Praxis.
    Sie werden darin unterstützt, das Gelernte auf andere Probleme und Aufgabenstellungen anzuwenden.
  • Die Lerninhalte werden methodisch abwechslungsreich vermittelt. Handlungsorientierte Methoden, die
    die aktive Zusammenarbeit und Wissensaneignung der Lehrgangteilnehmer untereinander fördern, wie das
    Lernen anhand situationsbezogener Lernaufgaben oder Rollenspiele, haben einen hohen Stellenwert.
  • Nicht nur Ergebnisse werden bewertet, sondern es wird auf die Beurteilung des Lösungswegs und
    Lernprozesses geachtet. Dabei wird auch der Einfluss von Emotionen und Motivationen berücksichtigt.
  • Metakompetenzen werden berücksichtigt. So wird den Lernenden vermittelt, wie sie ihr eigenes Lernen
    selbst überwachen und verbessern können.
    Eine idealtypische Zusammenstellung und Ausprägung der Merkmale ist jedoch im Lehrgang meist
    nicht zu erreichen. Insofern ist der Unterricht häufig in „Graden der Handlungsorientierung“ zu
    beschreiben. Die Grenze für handlungsorientierten Unterricht ist dort erreicht, wo lediglich eine
    kleinschrittige Belehrung der Teilnehmer in Form eines dozentenzentrierten Unterrichts stattfindet,
    ohne dass Querverbindungen zu anderen Fachgebieten gezogen werden.
  1. Die Rollen von Lehrgangsteilnehmern und Dozenten
    Das neue Lehrgangskonzept erfordert das Überdenken und ggf. Verändern des eigenen
    Selbstverständnisses als Lernender und Lehrender. Es soll im Folgenden zunächst auf die Rolle der
    Lernenden eingegangen werden. Sie ist charakterisierbar durch eine stärkere Involvierung in den
    Lehr-/Lernprozess. Es werden nicht mehr nur curriculare Lehrziele aufgestellt und von den angehenden
    Meistern mehr oder weniger als Lernziele akzeptiert, sondern die Lernenden sind aufgefordert, eigene
    Lernziele zu formulieren und in den Lehrgang einzubringen. Gewünscht wird, dass sie auch eigene
    Aufgabenstellungen aus ihrer betrieblichen Praxis im Lehrgang darstellen und bearbeiten. Dies kann
    z.B. parallel zur Lösung situationsbezogener Lernaufgaben erfolgen, wenn es Übereinstimmungen
    inhaltlicher Art gibt.
    Der offensichtliche Praxisbezug der Aufgaben wirkt sich auf die Leistungsbereitschaft der Lernenden
    aus. Sie lernen Verantwortung für ihr Lernen zu übernehmen und entfernen sich damit von der noch
    häufig verbreiteten passiven „Konsumhaltung“. Die Mitgestaltung des Unterrichts (Teilnahme an
    der Planung, Durchführung und Auswertung) durch die Lernenden äußert sich darüber hinaus darin,
    dass sie den Lehrgang kritisch reflektieren, Veränderungen vorschlagen und deren Umsetzung
    verwirklichen helfen. Sie sind aktiv an der Gestaltung des Lernprozesses beteiligt und lernen dabei
    selbstverantwortlich und unter Berücksichtigung der Interessen anderer Lernender zu handeln. Eine
    weitere Anforderung an die Lernenden besteht darin, sich an die neue Rolle der Lehrenden
    anzupassen.
    Waren in früheren Lehrsituationen Unterweiser, Erklärer, Vormacher und Kontrolleure gefragt, so
    reduziert sich nun der Anteil dieser Personengruppen zugunsten der Organisatoren, Berater und vor
    allem der Moderatoren (Höpfner, 1995)1

. Ziel ist, dass die Rolle des Lehrenden, der alles am besten
weiß und kann, sukzessive aufgegeben wird. Lehrende werden sich verstärkt daran messen lassen
müssen, inwieweit es ihnen gelingt, die Lernenden in ihrem eigenständigen Lernprozess zu beraten
sowie ihre Selbstverantwortlichkeit zu fördern. Sowohl Lehrende als auch Lernende werden erkennen
und akzeptieren, dass beispielsweise vorschnelle Hilfen und Musterlösungen dem Lernprozess der
Teilnehmer abträglich sind.
Die neuen Rollenvorstellungen bedeuten für die Beteiligten eine Umstellung. Insbesondere am Anfang
sind Skepsis und Gefühle des Überfordertseins, selbstorganisiert zu lernen bzw. in diesem Sinne zu
lehren, möglich. Die neuen Rollen können jedoch übernommen werden, wenn sich Lehrende als auch
Lernende in einem gemeinsamen Lernprozess begreifen, der sich auf das Erlernen neuer Lehr- und
Lernmöglichkeiten bezieht. Um die Lernenden an ihre Rolle heranzuführen, ist es nötig, dass sie sich
mit ihren bisherigen Lernerfahrungen auseinandersetzen. Eine gemeinsame Reflexion im Lehrgang
(z.B. zu Beginn des handlungsspezifischen Teils) zum Thema „Wie lernt man am effektivsten?“ kann
dabei helfen. Nur wenn bisherige Erfahrungen mitbedacht werden, entsteht Offenheit für neue
Lernformen.

Zu der neuen Rollenverteilung gehört auch, dass beide Gruppen partnerschaftlich miteinander
umgehen. Lehrende sollen die Beiträge und Vorgehensweisen der Lernenden ernst nehmen und nicht
vorschnell bewerten. Sie müssen Kritik am Lehr-/Lernprozess einfordern und gemeinsam mit den
angehenden Meistern nach neuen Möglichkeiten suchen. Anstelle der bisher oft üblichen
Dozentenzentrierung in der Wissensvermittlung und Ergebnisbewertung, sollen Fragen und
Lösungsvorschläge gemeinsam diskutiert und beurteilt werden. Die Teilnehmer sind, ebenso wie die
Lehrenden, Experten in ihren Bereichen und bringen ihr Wissen ebenbürtig ein.

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